Schamanisches Tätowieren
Beim Tätowieren unter Einbezug der energetischen Komponente geht es um viel mehr als nur das Stechen von Hand oder das rituelle Setting.
Es geht um das Trainieren des Bewusstseins, hin zu einem neuen Umgang mit Schmerz. Im traditionellen Tätowieren gehen wir davon aus, dass der Schmerz, der während des Rituals gespürt wird, nicht von der Nadel kreiert, sondern aus dem Körpersystem gelöst wird. Bewusst in den Schmerz hinein zu atmen nimmt dabei eine zentrale Rolle ein.
Es geht nicht um die Glorifizierung von Schmerz, sondern darum, dass unser System oft alles tut, um Schmerz zu entkommen - dabei ist er der grösste Lehrer des Lebens, wenn wir einen gesunden Umgang mit ihm finden.
So wie das Leben durch teils schwere Schicksalsschläge unseren Charakter & unsere Perspektive auf die Welt, also insgesamt die Energie, die wir auf der Erde verkörpern, formt, formen wir durch den Schmerz des Tätowierens ein Bild in unserer Haut.
Es geht um das bewusste, kraftvolle Annehmen von schwierigen Situationen als Katalysator für die Verwirklichung dessen, was wir wirklich wollen.
Tätowierungen sind für immer, wenn man sich wirklich für sie entscheidet. Das heisst, sie kosten etwas. Dieses etwas ist Verbindlichkeit. Einerseits: Ich stehe zu der Entscheidung, dieses Motiv für den Rest meines Lebens zu tragen. Andererseits: Ich stehe zu dem, was dieses Tattoo symbolisiert - vor meiner Gemeinschaft, vor Fremden, vor meinem Gott.
Genau diese Verbindlichkeit wird gebraucht, um starke Gemeinschaften zu kreieren und zu halten. Klares, offenes Kommunizieren der eigenen Werte. Zu der Entscheidung, ein Teil der Gemeinschaft zu bleiben, zu stehen, auch, wenn es richtig schwierig wird.
Dies ist ein Grund dafür, warum viele Tribes seit tausenden von Jahren Tattoo- oder andere Schmerzrituale durchführen - sie fördern den Sinn für wahre Verbindlichkeit. Fehlt dieser, fehlt vieles - wie wir in unserer heutigen westlichen Welt bestens beobachten können. Viele hier hatten nicht das Privileg, zu lernen, wie man seine eigenen Moralvorstellungen verkörpert.
Individuelle Schmerzrituale haben auch den Vorteil, das sie den Einzelnen tiefer mit sich selbst und seiner eigenen Wahrheit verbinden. Will man wahre Gemeinschaft, braucht man Menschen, die eine starke eigene innere Moral haben und zu dieser stehen, wenn es darauf ankommt.
Wahre Freunde sprechen Dich auf Deine Schatten an, auch wenn Du ihr Schamane oder Stammesführer bist.
Dazu braucht man dicke Eier, denn in den Konflikt zu gehen braucht immer Überwindung. Schmerzrituale stärken ebendiese Eigenschaften - dicke Eier und den Mut, die eigene Scheu vor Konflikt zu überwinden.
Ein weiterer Vorteil dieser antiken und heutigen Form des Tätowierens ist, dass energetisch viel transformiert werden kann, wenn man mit Absicht und Klarheit den Prozess steuert.
Somatisch gesprochen werden Zellen geöffnet, aus denen Energie entweichen kann. Nicht selten schlägt mir während eines Rituals die rote Flamme unterdrückter Wut entgegen. Gut, hält Spirit den Raum für mich, sodass sich transformieren darf, was dazu bereit ist.
Ötzi zum Beispiel hatte Tätowierungen an den Stellen des Körpers, an denen er physische Gebrechen hatte. Die Tinte enthielt Kräuter, welche auf die jeweiligen Gebrechen abgestimmt war.
Ob Tätowieren eine heilende Wirkung hat, darf man heutzutage aus rechtlichen Gründen schon gar nicht fragen.
Dass es eine transformierende Wirkung hat, würden wohl die meisten tätowierten Menschen bestätigen.
Man könnte sich also fragen, was heilen denn wirklich bedeutet.
Wenn man es von der germanischen Wortwurzel hailijan ausgeht, kommt heilen von ganz machen, taucht man tiefer erreicht man den indogermanischen Wortstamm kailo-; ganz, gesund sein.
Wenn, wie besprochen, tätowieren innere sowie äussere, kommunale Werte bekräftigt und stärkt, ist das auf jeden Fall ein Schritt in die eigene und kollektive Ganzheit.